Die Sache mit dem Bauchgefühl –
Erziehung und Intuition
Neulich nahm ich an einem Seminar zu
Entwicklungspsychologie teil und der Dozent meinte, er würde allen
Eltern von Erziehungsratgebern abraten. Das würde nur unnötig
verwirren - am besten sollte man einfach auf seine Intuition hören.
Hört sich vielleicht cool an, ist aber meines Erachtens alles andere
als klug!
Sicherlich gibt es Situationen, in
denen unser Bauchgefühl eine große Rolle spielt. Zum Beispiel, wenn
man sich gegen eine Kita entscheidet, die einen tollen Ruf hat, weil
man einfach kein gutes Gefühl dabei hat. Oder, wenn man früher nach
Hause fährt, weil man das Gefühl hat, dass zuhause etwas nicht
stimmt. Die Erfahrung zeigt, dass es sinnvoll ist, diesen elterlichen
„siebten Sinn“ ernst zu nehmen.
Es gibt außerdem ein sogenanntes
„intuitives Elternprogramm“ - bestimmte Verhaltensweisen, die wir
in der Regel automatisch an den Tag legen, weil wir spüren, dass sie
unserem Kind gut tun. So entspricht der Abstand, den die meisten
Eltern intuitiv zum Gesicht ihres Säuglings einnehmen, wenn sie ihn
ansehen – ca. 40-50 cm – genau der Entfernung, in der die Kleinen
gut sehen können. Auch die hohe Stimme und das langsame Sprechtempo,
mit dem Erwachsene mit Babys reden, ist genau auf die
Kommunikationsbedürfnisse von Säuglingen angepasst.
Das bedeutet jedoch nicht, dass unser
Bauchgefühl in allen Erziehungsfragen ausreichend ist. Für die
meisten Entscheidungen sind Informationen (zum Beispiel über
kindliche Entwicklung) und Selbststreflexion (über eigene Prägungen
und „automatische“ Verhaltensweisen, zu denen man neigt) eine
wichtige Ergänzung zur Intuition.
Ein Beispiel: Paul, drei Jahre alt,
wird seit einer Woche im Kindergarten eingewöhnt. Heute Morgen ist
aber die Erzieherin Anke, die sich bisher immer um ihn gekümmert
hat, krank und eine noch fast unbekannte Erzieherin stellt sich Paul
vor. Der fängt an zu weinen und jammert: „Ich will nach Hause,
Mama!“ Nun bleibt Steffi, Pauls Mama, nicht viel Zeit, um
gründlich„Pro“ und Contra“ abzuwägen. Hilfreich sind aber ein
paar Informationen über kindliches Beziehungsverhalten – dass
gerade kleine Kinder Zeit brauchen, um Vertrauen aufzubauen und, dass
es wichtig ist, ihnen diese Zeit auch zu geben. Wenn Steffi von ihren
Eltern sehr „hart“ erzogen wurde und keine Rücksicht auf ihre
Bedürfnisse genommen wurde, ist Steffi das möglicherweise nicht
intuitiv klar. Sie hat gelernt: „Was uns nicht umbringt, macht uns
nur noch härter!“ oder denkt sogar: „Paul will mich doch nur
erpressen - das ist ein Machtspiel, auf das ich mich nicht einlassen
darf!“ Ihr Bauchgefühl sagt ihr also womöglich: „Lass' ihn
damit nicht durchkommen!“ Wenn Steffi aber in einem Elternkurs oder
Erziehungsbuch ein paar Fakten über kindliche Bedürfnisse erfahren
hat, kann sie Pauls Tränen viel besser verstehen. Trotzdem braucht
sie in dieser Situation auch viel Intuition – kann sie ihrem Paul
den „Sprung in's kalte Wasser“ nach ein paar ermutigenden Worten
zumuten oder ist es besser, zu warten, bis Anke wieder da ist?
Ein anderes Beispiel ist die Frage, wie oft man ein Baby füttert. Einige Babys weinen bei Hunger erkennbar anders als bei Müdigkeit oder Langeweile. Andere Babys senden aber nicht so eindeutige Signale. Die meisten Eltern hören dann meist keine intuitive innere Stimme, die ihnen sagt: "Das Baby sollte schon wieder essen!" oder "Nein, es ist nur müde!" Dann ist es hilfreich, sich ein paar professionelle Informationen einzuholen, zum Beispiel von der Hebamme, aber auch durch Bücher wie "Das Stillbuch" von Hannah Lothrop oder durch seriöse Artikel im Internet. Dann wird man unterschiedliche Sichtweisen und vielerlei Informationen bekommen, und das Bauchgefühl kann dann helfen, zu entscheiden, welche davon zur eigenen Situation gerade am besten passen.
Das Problem mit dem Bauchgefühl ist,
dass es oft von kulturellen oder familiären Prägungen überdeckt ist. Die Art, wie wir aufgewachsen sind,
beeinflusst stark, wie wir intuitiv mit unseren Kinder umgehen.
Hinzu kommt, dass unser Bauchgefühl
oft von eigenen Stimmungen und Gefühlen bestimmt wird. Im letzten
Sommer fuhren mein Mann und ich mit unseren Kindern an den Strand.
Während wir die Sachen aus dem Auto packten, wartete unser
sechsjähriger Sohn mit unserer zweijährigen Tochter neben uns. Sie
liefen ein paar Schritte – und plötzlich stand unsere Tochter in
einem Graben, ihre Kleidung vollkommen matschig und nass!
Offensichtlich hatte unser Sohn sie in den Graben gesetzt. Wir wurden
sehr wütend und schimpften ziemlich laut und böse mit ihm. Unser
Bauchgefühl sagte uns ganz klar: „Der Junge hat etwas richtig
Dummes gemacht! Wegen ihm muss jetzt einer von uns zur Ferienwohnung
fahren und neue Klamotten holen! Er muss spüren, wie falsch das
war!“ Unser Sohn war so erschrocken, dass er uns erst etwas später
erklären konnte, was passiert war: Seine Schwester hatte auf dem
Campingplatz hinter dem Graben einen Hund gesehen, den sie gern
streicheln wolle. Deshalb hatte er versucht, sie über den Graben zu
tragen. Leider war sie zu schwer für ihn, sodass er es nicht
geschafft hatte … als wir das hörten, tat es uns ziemlich leid,
dass wir einfach auf unser Bauchgefühl gehört hatten, statt
zunächst die Fakten zu sammeln.
Unser Bauchgefühl ist also alles
andere als neutral und zuverlässig. Deshalb haben
Erziehungsratgeber, Elternkurse, Beratungsstellen und die Tipps von
Freundinnen durchaus ihre Berechtigung. Das bedeutet nicht, dass wir
alle Tipps 1:1 übernehmen sollten. Sie sind aber wertvoll als
Impulse, die uns helfen, uns gut zu informieren, gründlich abzuwägen
und unser Verhalten zu reflektieren. Nur wenn wir die wichtigsten
Informationen haben, können wir wirklich vernünftig entscheiden,
was sich gerade richtig anfühlt. Wenn wir dann alle Fakten bedacht
haben, unsere eigenen Einstellungen und Vorurteile hinterfragt haben
und immer noch nicht klar sehen, was richtig ist oder ganz verwirrt
sind, weil wir zu viele unterschiedliche Tipps bekommen haben– dann
ist die Intuition oft eine gute Hilfe: Nun habe ich die wichtigsten
Infos und Ideen gesammelt – was von all dem fühlt sich jetzt gerade
passend und richtig an?